9. Januar 2023

Verfall von Urlaub bei Dauererkrankung des Arbeitnehmers

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 20.12.2022 – 9 AZR 245/19

Auch diese Entscheidung folgt auf die Vorabentscheidung des EuGH zur Obliegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer auf seinen Urlaubsanspruch hinzuweisen und zur Inanspruchnahme aufzufordern. Im Falle der Langzeiterkrankung verjähre der Urlaub aus dem Jahr, in dem noch teilweise gearbeitet wurde, nicht, wenn der Arbeitgeber seinen Obliegenheiten nicht genügt hat. Wenn der Arbeitnehmer allerdings seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert gewesen sei, seinen Urlaub anzutreten, verfalle der Urlaubsanspruch aber weiterhin mit Ablauf der 15-Monats-Frist. Für diesen Fall komme es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können.

9. Januar 2023

Verjährung von Urlaub bei Verletzung arbeitgeberseitiger Unterrichtungsobliegenheit

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 20.12.2022 – 9 AZR 266/20

Das BAG setzte die Vorgaben des EuGH um und bestätigte, dass ohne Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wird, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Die Ansprüche verfielen deshalb weder am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 III 1, 3 BUrlG), noch könne der beklagte Arbeitgeber mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses nach Ablauf von drei Jahren verjährt. Zwar fänden die Vorschriften über die Verjährung (§§ 214 I, 194 I BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginne bei einer richtlinienkonformen Auslegung von § 199 I BGB jedoch erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen habe.

5. Januar 2023

Rentennähe darf bei Sozialauswahl zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 08.12.2022 – 6 AZR 31/22

Das BAG gestand zu, dass die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl berücksichtigen durften. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ sei ambivalent. Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie falle aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann. Diese Umstände könnten der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen.

3. Januar 2023

Keine Pflicht von Beschäftigten, sich während ihrer Freizeit nach Dienstplanänderungen zu erkundigen

Arbeitsrecht

LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.09.2022 – 1 Sa 39 öD/22

Mit der Änderung des Dienstplans eines Mitarbeiters übt der Arbeitgeber diesem gegenüber sein Direktionsrecht aus. Die Änderung muss dem Mitarbeiter zugehen, da es sich bei der Ausübung des Direktionsrechts um eine empfangsbedürftige Gestaltungserklärung handelt. Der Mitarbeiter ist nicht verpflichtet, sich in seiner Freizeit zu erkundigen, ob sein Dienstplan geändert worden ist. Er ist auch nicht verpflichtet, eine Mitteilung des Arbeitgebers – etwa per Telefon – entgegenzunehmen oder eine SMS zu lesen. Nimmt er eine Information über eine Dienstplanänderung nicht zur Kenntnis, geht ihm diese erst bei Dienstbeginn zu.

3. Januar 2023

Gesundheitsprognose bei häufigen Kurzerkrankungen

Arbeitsrecht

LAG Köln, Urteil vom 1.9.2022 – 8 Sa 393/21

Der Rechtsstreit wurde wegen einer im Jahr 2020 ausgesprochenen personenbedingten Kündigung bei häufigen Kurzerkrankungen geführt. Seit dem Jahr 2014 war es jährlich zu einer schwankenden Zahl von Fehltagen gekommen. Die Klägerin wandte ein, dass es nicht auf eine durchschnittliche Betrachtung seit 2014, sondern auf die Fehlzeiten in den letzten drei Jahren vor der Kündigung ankomme. Neben den geringen Fehlzeiten von nur 23 Tagen im Jahr 2019 sei sie im Jahr 2020 an nur 12 Tagen wegen eines grippalen Infekts und anderer ausgeheilter Erkrankungen ausgefallen. Weitere 33 Fehltage seien im Jahr 2020 auf Erkrankungen der Füße zurückzuführen, die zwischenzeitlich operativ behandelt und ausgeheilt seien. Nach Auffassung des LAG lag keine negative Zukunftsprognose hinsichtlich krankheitsbedingter Fehlzeiten der Klägerin vor. Soweit bei der Klägerin während der letzten Jahre mehrere Kurzerkrankungen aufgetreten seien, spreche dies zwar für eine entsprechende künftige Entwicklung eines Krankheitsbildes. Anders sei dies aber zu beurteilen, wenn die Krankheiten ausgeheilt seien und insoweit keine weiteren Ausfallzeiten erwarten ließen. Gleiches gelte für Fehlzeiten, die auf einem einmaligen Ereignis beruhten oder auf Erkrankungen, gegen die erfolgreich besondere Therapiemaßnahmen ergriffen worden seien. Von diesen Grundsätzen ausgehend seien mindestens 33 Fehltage im Jahr 2020 nicht prognoserelevant, da diese auf zwischenzeitlich erfolgreich behandelten Fußerkrankungen beruht hätten. Eine um zwei Jahre früher ausgesprochene Kündigung wäre nach diesen auch vom BAG angewendeten Regeln wohl durchgegangen.

9. Dezember 2022

Unwirksamkeit einer Kündigung wegen Widerspruchs zum zuvor erteilten Zwischenzeugnis

Arbeitsrecht

LAG Hamm, Urteil vom 03.05.2022 – 14 Sa 1350/21

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten. Diese behauptet, der Kläger habe ihren Geschäftsführer am Tag vor Ausspruch der Kündigung beleidigt und körperlich bedrängt. Nach diesem im Einzelnen streitigen Vorfall erteilte die Beklagte dem Kläger ein Zwischenzeugnis mit folgender Leistungs- und Verhaltensbeurteilung: „Er erledigt die ihm übertragenen Arbeiten stets zu unserer vollsten Zufriedenheit. Sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen ist immer einwandfrei“. Bei Übergabe des Zeugnisses erklärte der Geschäftsführer, der Kläger könne sich mit diesem Zwischenzeugnis ja bewerben.

Sowohl die außerordentliche als auch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung sind nach dem LAG unwirksam. Aufgrund ihres im Hinblick auf das erteilte Zwischenzeugnis widersprüchlichen Verhaltens könne sich die Beklagte wegen des hierin liegenden Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB nicht mehr auf diese Gründe berufen. Mit der Formulierung im Zwischenzeugnis, das Verhalten des Klägers gegenüber Vorgesetzten und Kollegen sei „immer einwandfrei“ gewesen, habe die Beklagte zum Ausdruck gebracht, dass das Verhalten des Klägers im Arbeitsverhältnis bis zur Ausstellung des Zwischenzeugnisses nicht zu beanstanden war. Durch die Aushändigung des Zeugnisses habe die Beklagte sich gegenüber dem Kläger dahin gebunden, dass sie die ggf. eine schlechte Leistungs- und Verhaltensbeurteilung rechtfertigenden Vorgänge nicht mehr zu seinen Lasten berücksichtigen wolle.

8. Dezember 2022

Verjährung von Urlaub bei Verletzung arbeitgeberseitiger Unterrichtungsobliegenheit

Arbeitsrecht

EuGH, Urteil vom 22.09.2022 – C-120/21

Auf Vorlage des BAG erging die Entscheidung, dass Art. 7 der Richtlinie (RL) 2003/88/EG und Art. 31 II EU-GRCharta einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf erworbenen bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. Vorliegend sei es Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme.

8. Dezember 2022

Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung

Arbeitsrecht

BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21

In überraschendem Kontext spricht sich das BAG für eine kraft Arbeitsschutzgesetz bereits geltenden Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung aus. In der Entscheidung verneinte es ein Initiativrecht des Betriebsrats bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung. Eine bestehende gesetzliche Regelung sperre die Mitbestimmung in diesem Zusammenhang (§ 87 Abs.1 Einleitungssatz BetrVG). § 3 ArbSchG verpflichte den Arbeitgeber, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Nach § 3 Abs.2 Nr. 1 ArbSchG habe der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Diese Vorschrift sei unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung unionsrechtskonform auszulegen. Im Lichte dieser Auslegung verpflichte sie den Arbeitgeber bereits jetzt, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen.

8. Dezember 2022

Urlaubsabgeltung und arbeitsvertragliche Ausschlussfristen

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 24.05.2022 – 9 AZR 461/21

Die Parteien stritten über die Abgeltung des Jahresurlaubs der Klägerin i.H.v. 24 Urlaubstagen. Der Arbeitsvertrag regelte im Rahmen einer zweistufigen Ausschlussklausel, dass alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, sofern sie nicht innerhalb einer dreimonatigen Frist geltend gemacht bzw. eingeklagt werden. Ausgenommen davon waren Ansprüche nach dem MiLoG und aufgrund vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung. Fünf Monate nach Ende des Arbeitsverhältnisses machte die Klägerin mit einer am 23.01.2020 zugestellten Klage den Anspruch auf Urlaubsabgeltung geltend. Die Beklagte lehnte diesen mit Verweis auf die Ausschlussklausel ab. Dem entgegnete die Arbeitnehmerin, der Anspruch sei nicht erloschen, da die Klausel aus dem Arbeitsvertrag intransparent und daher unwirksam sei. Sie klammere u.a. Ansprüche, aus fahrlässiger Verletzung des Lebens, des Körpers und der Gesundheit und Ansprüche, die ausdrücklich anerkannt oder streitlos gestellt worden sind, nicht eindeutig aus. Das BAG bestätigte den Verfall des Anspruchs. Die Klägerin konnte sich auch nicht auf die Unwirksamkeit der Ausschlussfrist berufen. Urlaubsabgeltungsansprüche können als reine Geldansprüche aufgrund einer Ausschlussfrist verfallen. Aufgrund der in §§ 104 ff. SGB VII für das Arbeitsverhältnis geltenden unfallversicherungsrechtlichen Sonderregelungen sind Ausschlussklauseln, die entgegen § 309 Nr. 7 a) BGB Schäden aus der fahrlässigen Verletzung von Leben, Körper und Gesundheit nicht vom Verfall ausnehmen, nicht unwirksam. Schließlich sind arbeitsvertragliche Ausschlussklauseln auch nicht wegen Intransparenz unwirksam, weil sie streitlos gestellte und anerkannte Ansprüche aus ihrem Anwendungsbereich nicht ausdrücklich ausklammern. Ein Anerkenntnis, die Streitlosstellung von Ansprüchen oder eine Erfüllungszusage ist jeweils ein auf den Einzelfall bezogener punktueller tatsächlicher Verzicht auf die Geltendmachung einer Ausschlussfrist. Es ist aus Transparenzgründen nicht erforderlich, in einer Ausschlussklausel klarzustellen, dass diese Verzichtstatbestände von dem Verfall ausgenommen sind.

Das BAG äußert, dass Ausschlussklauseln durch allzu detaillierte Regelungen darüber, was alles nicht vom Verfall erfasst sein soll, intransparent und unübersichtlich werden können. Maßstab für die Transparenzkontrolle von arbeitsrechtlichen Verfallklauseln ist der mündige Arbeitnehmer, der seinen Vertrag nicht nur flüchtig, sondern aufmerksam und sorgsam liest. Um transparent zu sein, müssen Verfallklauseln deshalb nicht alle Eventualitäten erfassen und im Einzelfall nicht einschlägigen, nur abstrakt denkbaren Ausnahmetatbestände auflisten.

8. Dezember 2022

Betriebsrisiko – coronabedingte Betriebsschließung

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 366/21

Die im Rahmen eines allgemeinen Lockdowns zur Bekämpfung der Corona-Pandemie staatlich verfügte vorübergehende Betriebsschließung ist kein Fall des vom Arbeitgeber nach § 615 S. 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos. Der Arbeitgeber trage nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn die behördlich verfügte Schließung im Rahmen allgemeiner Maßnahmen staatlicher Stellen zur Pandemiebekämpfung erfolge und betriebsübergreifend zum Schutz der Bevölkerung von schweren und tödlichen Krankheitsverläufen soziale Kontakte auf ein Minimum reduziere und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. In einem solchen Fall realisiere sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb aufgrund seiner konkreten Produktions- und Arbeitsbedingungen angelegtes Risiko. Dieses allgemeine Risiko, das Folge letztlich politischer Entscheidungen zur Eindämmung des die Allgemeinheit insgesamt treffenden Infektionsrisikos sei, müsse der Arbeitgeber – bei gebotener wertender Betrachtung – nicht tragen. Ohne Belang sei es, ob das Risiko, den Betrieb aufgrund hoheitlicher Maßnahmen schließen zu müssen, versicherbar sei.