24. November 2022

Microsoft Office 365 als technische Überwachungseinrichtung

Arbeitsrecht

BAG, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 ABR 20/21

Die unternehmenseinheitliche Nutzung von Microsoft Office 365 mit der Möglichkeit einer zentralen Kontrolle von Verhalten und Leistung der Arbeitnehmer erfordert aus zwingenden technischen Gründen eine betriebsübergreifende Regelung, für die der Gesamtbetriebsrat zuständig ist. In der Sache unterliege die Einführung und Anwendung von Microsoft Office 365 als einheitliche und untrennbare Angelegenheit der Mitbestimmung nach § 87 Absatz 1 Nummer 6 BetrVG, denn die bei Verwendung des Softwarepakets erhobenen Daten könnten für eine Leistungs- und Verhaltenskontrolle genutzt werden. Die Zuständigkeit obliege nach § 1 BetrVG dem Gesamtbetriebsrat.

24. November 2022

Kündigung wegen Kurzerkrankungen und Abschluss des BEM

Arbeitsrecht

LAG Düsseldorf, Urteil vom 17.5.‌2022 – 14 Sa 825/21

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, personenbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen häufiger Kurzerkrankungen aus verschiedenen Gründen, verursacht nach Angaben des Klägers im BEM durch privaten Stress. Wegen voller Einsatzfähigkeit wurde das BEM einvernehmlich geschlossen. Wegen weiterer 9 Krankheitstage kündigte die Beklagte nach BR-Anhörung zum 31.3.‌2021 ordentlich. Das LAG sah die ausgesprochene Kündigung als sozial gerechtfertigt an. Häufige (Kurz-)Erkrankungen sind in drei Stufen zu prüfen. Treten während der letzten Jahre jährlich mehrere (Kurz-)Erkrankungen auf, spricht dies für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes, es sei denn, die Krankheiten sind ausgeheilt. Dem LAG genügten hier die AU-Tage für die negative Prognose. Das BAG gehe nicht starr von 3 Jahren Referenzzeitraum aus, so dass vorliegend 2 Jahre genügten für einen hinreichend prognosefähigen Fehlzeitenraum. Die prognostizierten Fehlzeiten von jährlich durchschnittlich 59, mindestens 36 Arbeitstagen führten zu der Annahme zu erwartender Entgeltfortzahlungskosten für mehr als sechs Wochen, was bei einer 5 Tagewoche genügt. Die Kündigung war auch verhältnismäßig. Ein milderes Mittel zur Vermeidung oder Verringerung der Fehlzeiten war nicht ersichtlich. Ein erneutes BEM vor Ausspruch der Kündigung war nicht geboten, weil das Herbst 2020 durchgeführte BEM einvernehmlich abgeschlossen war und danach keine neuen 6 Wochen Fehlzeiten mehr auftraten. Für die Beendigung sprachen schließlich die kurze Betriebszugehörigkeit, geringes Alter, hohe und steigenden Fehlzeiten, mannigfaltige Beschwerden und private Ursachen.

22. November 2022

Verhaltensbedingte Kündigung wegen quantitativer Minderleistung

Arbeitsrecht

LAG Köln, Urteil vom 3.5.2022 – 4 Sa 548/21

Der als Kommissionierer tätige Kläger erreichte nach Versetzung in seinen letzten Bereich in 2018 in keinem Monat die festgelegte Basisleistung. Nach ersten Personalgesprächen hierzu erhielt er Abmahnungen wegen bewusster Zurückhaltung der Arbeitskraft, da er rd. 73 % der Basisleistung erzielte bei vergleichbarem Pensum anderer Mitarbeiter von 117%. Nach nochmaligem Abfall auf rd. 60 % kündigte die Beklagte ordentlich fristgerecht, wogegen sich die Klage richtete. Das LAG wies die Klage ab, da die verhaltensbedingte Kündigung aufgrund Schlechtleistung gerechtfertigt sei. Sei die Arbeitsleistung der Menge und der Qualität nach nicht oder nicht näher beschrieben, so richte sich der Inhalt des Leistungsversprechens zum einen nach dem vom Arbeitgeber durch Ausübung des Direktionsrechts festzulegenden Arbeitsinhalt und zum anderen nach dem persönlichen, subjektiven Leistungsvermögen des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer müsse tun, was er solle, und zwar so gut, wie er könne. Dem Arbeitnehmer sei es mithin nicht gestattet, das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung einseitig nach seinem Belieben zu bestimmen. Bei quantitativen Minderleistungen könne sich dazu an den Werten, die für die Annahme einer grundlegenden Störung des Leistungsgleichgewichts herangezogen würden, orientiert werden. Kenne der Arbeitgeber lediglich die objektiv messbaren Arbeitsergebnisse, so genüge er seiner Darlegungslast, wenn er Tatsachen vortrage, aus denen sich das erhebliche Unterschreiten der Durchschnittsleistung ergebe, sprich von mehr als 1/3. Plausible Erklärungen blieb der Kläger schuldig.

25. August 2022

Reihenfolge der Gewährung von Urlaub

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 01.03.2022 – 9 AZR 353/21

Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Ansprüche auf Erholungsurlaub zu, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, findet § 366 BGB Anwendung, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht. Nimmt der Arbeitgeber dabei keine Tilgungsbestimmung i.S.v. § 366 I BGB vor, findet die in § 366 II BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe Anwendung, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche (auch auf Zusatzurlaub bei Schwerbehinderung) und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden.

25. August 2022

Zu vermutende Diskriminierung bei Kündigung eines Schwerbehinderten ohne Zustimmung des Integrationsamtes

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 02.06.2022 – 8 AZR 191/21

Der klagende Arbeitnehmer begehrte eine Entschädigung nach § 15 Abs.2 AGG. Zwar habe zum Kündigungszeitpunkt noch kein Nachweis seiner Schwerbehinderung durch eine behördliche Feststellung vorgelegen. Allerdings sei nach einem Schlaganfall seine Schwerbehinderung zum Zeitpunkt der Kündigung offenkundig gewesen. Im Ergebnis verneinte das BAG die Offenkundigkeit und damit einen Verstoß. Grundsätzlich bejaht es aber die Indizwirkung von Verstößen des Arbeitgebers gegen Vorschriften zum Schutz von schwerbehinderten Menschen im Zusammenhang auch mit einer Kündigung.

16. August 2022

Überstundenvergütungsprozess ohne Erleichterung durch Arbeitszeitrichtlinie

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 359/21

Vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer ist auch nicht vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 abzurücken. Diese Entscheidung sei nur zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 EU-GRCharta ergangen. Der Arbeitnehmer hat zur Begründung einer Klage auf Vergütung geleisteter Überstunden nach wie vor zunächst darzulegen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers hierzu bereitgehalten hat. Da der Arbeitgeber Vergütung nur für von ihm veranlasste Überstunden zahlen muss, hat der Arbeitnehmer in einem zweiten Schritt vorzutragen, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit ziele ausschließlich auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz durch Begrenzung der Höchstarbeitszeit und habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen Recht und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.

20. Juli 2022

Unwirksamkeit einer Rückzahlungsklausel

Arbeitsrecht

LAG Berlin-Brandenburg, 11.2.2022 – 12 Sa 805/21

Die Parteien schlossen im Arbeitsverhältnis einen Fortbildungsvertrag, wonach die klagende Arbeitgeberin die Kosten des Lehrgangs (Unterrichtskosten, Kosten der Unterbringung, Fahrtkosten) in voller Höhe zu übernehmen hatte. Für den Fall des Abbruchs der Bildungsmaßnahmen aus Gründen, die der Beklagte zu vertreten hatte, sah der Fortbildungsvertrag die Rückzahlung der bis zum Abbruch tatsächlich entstanden Aufwendungen in voller Höhe vor. Ohne die Lehrgänge erfolgreich abgeschlossen zu haben kündigte der Beklagte. Die Klägerin machte unter anderem die Rückzahlung von Lehrgangskosten geltend. Nach der Wertung des Gerichts war die Klausel  nicht hinreichend bestimmt und transparent. Im Arbeitsverhältnis bezeichne für die Zwecke von Rückzahlungsklauseln wegen Fortbildungskosten der Begriff der Aufwendungen aus sich heraus nicht hinreichend genau und abschließend die einzelnen Positionen und deren Berechnung, aus denen sich die rückzahlbare Gesamtforderung zusammensetzen solle. Eine hinreichende Bestimmtheit und die Verhinderung von Beurteilungsspielräumen könnten auch nicht aus den übrigen Bestimmungen des Fortbildungsvertrags hergeleitet werden. Bei der Formulierung einer Rückzahlungsklausel ist größtmögliche Sorgfalt anzuwenden unter Beachtung der ergangenen Rechtsprechung.

13. Juli 2022

Vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt für Sonderzahlungen muss Individualabreden ausnehmen

Arbeitsrecht

LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.01.2022 – 9 Sa 66/21 (Revision anhängig)

Es bestand Streit über Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, nachdem über fünf Jahre ohne weiteren Vorbehalt entsprechende Sonderzahlungen getätigt wurden. Im Arbeitsvertrag fand sich folgende Klausel:

 „Die Zahlung von Sonderzuwendungen insbesondere von Weihnachts- und/ oder Urlaubsgeld liegt im freien Ermessen des Arbeitgebers und begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft, auch wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt.“

Das Gericht entschied im Einklang mit dem BAG (Urt. vom 14.09.2011 – 10 AZR 526/10), dass eine konkludente Vertragsänderung vorliege. Die einfache Schriftformklausel des Arbeitsvertrags stehe der konkludenten Vertragsänderung nicht entgegen. Die Klausel sei wegen Verstoßes gegen § 305b BGB insoweit unwirksam, als sie abweichende Individualabreden verhindere. Auch der arbeitsvertragliche Freiwilligkeitsvorbehalt stehe der konkludenten Vertragsänderung nicht entgegen. Zwar erfasse er keine monatlichen Zahlungen, sondern nur einmalige Sonderzahlungen. Die Klausel sei aber wegen einer falschen Darstellung der Rechtslage intransparent und verstoße gegen § 307 I 2 BGB. Darüber hinaus benachteilige sie den Kläger unangemessen. Der Freiwilligkeitsvorbehalt mache nicht deutlich, dass auf Sonderzuwendungen jedenfalls dann ein Anspruch bestehe, wenn diese zuvor zwischen den Parteien individuell vereinbart worden seien. Um wirksam zu sein, müsse ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt ausdrücklich darauf hinweisen, dass spätere Individualabreden über vertraglich nicht geregelte Gegenstände nicht vom Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst seien. Soll das Entstehen eines Anspruchs aus einer konkludenten individuellen Vertragsänderung rechtssicher verhindert werden, muss der Arbeitgeber jeweils bei Auszahlung der Sonderzahlung auf die Freiwilligkeit der Leistung hinweisen. Aus Nachweisgründen sollte dies schriftlich geschehen.

13. Juli 2022

Obliegenheiten des Arbeitgebers beim Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen

Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 143/21

Die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs schwerbehinderter Menschen nach § 208 I 1 SGB IX ist nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren. Der Kläger machte nach Eigenkündigung unter Offenbarung der seit Oktober 2014 anerkannten Schwerbehinderung die Abgeltung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus 2016 bis 2018 geltend. Er war ab 2016 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte hatte den Kläger zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, Urlaub zu nehmen, und auch nicht darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums verfallen kann. Das BAG entschied, dass der Anspruch auf Zusatzurlaub mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Urlaubsübertragungszeitraums verfalle, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers hatte und diese auch nicht offenkundig sei. Mangels Kausalzusammenhangs zwischen Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten und Nichtverwirklichung des Urlaubs verfällt also der Urlaub. Für die Frage, ob der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Eigenschaft des Arbeitnehmers als schwerbehinderter Mensch hat, gelten die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast.

12. Juli 2022

Quarantäne während des Erholungsurlaubs

Arbeitsrecht

LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.02.2022 – 10 Sa 62/21

Die Parteien stritten über die analoge Anwendung von § 9 BUrlG auf den Kläger, der wegen Kontakt zu einer an COVID erkrankten Person Quarantäne halten musste, während er Urlaub hatte. Das LAG verneinte eine Analogie. Mit der Festlegung des Urlaubszeitraums und der vorbehaltslosen Zusage des Urlaubsentgelts im März 2020 habe die Beklagte als Schuldnerin des Urlaubsanspruchs alles Erforderliche getan. Die Beklagte schulde lediglich die Freistellung von der Arbeitspflicht und die Zahlung des Urlaubsentgelts. Einen „Urlaubserfolg“ schulde die Beklagte dagegen nicht. Alle später eintretenden urlaubsstörenden Ereignisse fallen als Teil des persönlichen Lebensschicksals grundsätzlich in den Risikobereich des Klägers, sofern der Gesetzgeber nicht – wie in § 9 BUrlG für den Fall der Arbeitsunfähigkeit – eine Ausnahme formuliert habe. Eine Entscheidung des BAG hierzu steht allerdings noch aus.